Tiefe Betroffenheit nach Flüchtlingstragödie mit bis zu 70 Toten
Wien, 28.08.15 (OID) Tief betroffen von der Flüchtlingstragödie auf der Ostautobahn hat sich Metropolit Arsenios gezeigt. Zugleich hat der Vorsituzende der Orthodoxen Bischofskonferenz in Österreich mit scharfen Worten die europäische Flüchtlingspolitik kritisiert. Europa befinde sich im "Zustand moralischer Narkose", so der Metropolit. Mit der jüngsten Flüchtlingstragödie "sind wir an einem Punkt angelangt, wo keiner von uns mehr wegschauen darf", schreibt der Metropolit wörtlich in seiner Stellungnahme: "Wir alle stehen als Österreicher und als Europäer in gemeinsamer Verantwortung für eine Welt menschlicher Werte und menschlicher Würde. Mit jedem toten Flüchtling stirbt Tag für Tag ein Stück Würde dieses Europas, dessen Vereinigung als Absage an Krieg und Terror entstanden ist und das noch vor Jahren Anlass zu großer Hoffnung in einer sich globalisierenden Welt gab."
Auf "beschämende Weise" offenbare die aktuelle Flüchtlingstragödie, dass die in den europäischen Gründungsverträgen beschworenen Werte in der gegenwärtigen Realverfassung Europas nicht mehr zum Tragen kommen.
Europa habe zu lange weggeschaut von den Entwicklungen, die sich nur wenige hunderte Kilometer von seinen Außengrenzen entfernt langsam aber unübersehbar aufgebaut haben, und nun sei man im Angesicht der humanitären Katastrophe ohne Plan und lasse einzelne Mitgliedstaaten mit ihren verschieden großen Flüchtlingsproblemen allein, kritisiert der Metropolit.
Die Stellungnahme im Wortlaut:
27.08.2015 – Stellungnahme des Vorsitzenden der Orthodoxen Bischofskonferenz in Österreich, des Metropoliten Arsenios von Austria, zum Sterben von bis zu 70 Menschen in einem Schlepperfahrzeug, das auf der burgenländischen A4 aufgefunden wurde:
„Jeden Tag sterben Menschen im größten Flüchtlingsdrama seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie sterben mittlerweile direkt vor unseren Augen. Mit einem in Österreich aufgefundenen Schleppercontainer, in denen Menschen auf der Flucht dutzendweise erstickt sein dürften, sind wir an einem Punkt angelangt, wo keiner von uns mehr wegschauen darf.
Der große österreichische Mahner Viktor Frankl hat den Begriff der "Kollektivverantwortung" geprägt. Wir alle stehen als Österreicher und als Europäer in dieser gemeinsamen Verantwortung für eine Welt menschlicher Werte und menschlicher Würde. Mit jedem toten Flüchtling stirbt Tag für Tag ein Stück Würde dieses Europas, dessen Vereinigung als Absage an Krieg und Terror entstanden ist und das noch vor Jahren Anlass zu großer Hoffnung in einer sich globalisierenden Welt gab.
Moralische Narkose Europas und seiner Entscheidungsträger
Auf beschämende Weise offenbart die aktuelle Flüchtlingstragödie, dass die in den europäischen Gründungsverträgen beschworenen Werte in der gegenwärtigen Realverfassung unseres Kontinents nicht mehr zum Tragen kommen. Zum Vorschein kommt stattdessen mehr und mehr ein Europa im Zustand moralischer Narkose, dessen Bemühungen den Anliegen entfesselter Finanzmärkte mehr zu dienen scheinen als den Geboten der Nächstenliebe und humanistischer Vernunft.
Es ist dasselbe Europa, das zu lange weggeschaut hat von den Entwicklungen, die sich nur wenige hunderte Kilometer von seinen Außengrenzen entfernt langsam aber unübersehbar aufgebaut haben, und das nun im Angesicht der humanitären Katstrophe ohne Plan ist und seine EU-Mitgliedstaaten mit ihren verschieden großen Flüchtlingsproblemen allein lässt. Es ist dasselbe Europa, das Waffenlieferungen aus europäischen Ländern nach Syrien ebenso wenig verhindert hat wie es imstande ist, die hunderttausenden Opfer der dadurch gestärkten Terrorstrukturen in ein durchdachtes solidarisches und einzelne Länder nicht überforderndes Aufnahmeprogramm auf EU-Boden zu überführen. Es ist dasselbe Europa, dessen gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik bislang nicht imstande war, in Krisenregionen zu investieren, um Menschen die Flucht aus ihrer Heimat überhaupt zu ersparen und den IS-Terror von Geld- und Waffenflüssen, vom Zugang zum Erdöl-Markt sowie von politischer Unterstützung abzuschneiden.
Und: Es ist dasselbe Europa, das selbst in seinen scheinbar profansten Definitionen von Nicht-Diskriminierung und Toleranz aus christlich-humanistischen Quellen schöpft, das aber gleichzeitig keine nennenswerten Bemühungen für sich verbuchen darf, auf internationaler Ebene etwas zum Schutz verfolgter Christen in Nahost und Afrika getan zu haben. Wer glaubt, die Werte seiner Gesellschaft bloß zitieren zu können ohne sie beständig zu leben, zu schützen und zu verteidigen, gibt auf Dauer seine Fundamente preis.
Das Fundament Europas
Europa scheint zu vergessen, dass es selbst ein historisch vielfach erkämpftes Gesellschaftssystem ist, das auf dem Fundament ganz bestimmter Werte ruht. Geht das Wissen um diese unsere Werte und deren Bedeutung verloren, verlieren wir gleichzeitig das Fundament unserer freien, modernen, demokratischen europäischen Gesellschaft. Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrem Vollsinn sind im letzten nicht denkbar ohne die Wurzel christlicher Überzeugung vom unendlichen Wert der menschlichen Seele vor Gott. Dieses jahrhundertealte Fundament gibt einem Land wie Österreich heute das kulturelle Rüstzeug und die moralische Kraft, so viele Flüchtlinge bei uns aufzunehmen und ihnen in bitterster Not beizustehen. Dieses Fundament muss geschützt werden, auch, indem die europäischen Länder nicht durch eine verantwortlungslose, derzeit nicht existente EU-Flüchtlingspolitik aus ihren natürlichen kulturellen Gleichgewichten gebracht werden.
Zeit, aufzuwachen
Es ist an der Zeit, die politischen Verantwortungsträger unseres Landes und mit ihnen die politischen Verantwortungsträger der Europäischen Union in die allerstrengste moralische Pflicht zu nehmen. Es ist Zeit, aufzuwachen! Wegsehen und Gleichgültigkeit, wo das menschliche Gewissen einen Aufschrei befiehlt, waren immer Zeichen des heraufdämmernden Niedergangs von Kulturen und Zivilisationen und des langsamen Verlustes von Freiheit und Frieden in einer Gesellschaft. Europa und – mit ihm – wir alle stehen auf dem Prüfstand dieser herausfordernden Zeit. Wir: Das sind die EU-Mitgliedstaaten, die Regionen und Gemeinden, die Zivilgesellschaft, die Kirchen, jeder Einzelne von uns. Ich bete, dass der christlich-humanistische Funke noch nicht erloschen ist. Und dass er stark genug ist, um wieder entfacht zu werden zu einem Leuchtfeuer der Humanität.
Den Opfern der Schlepper im Gebet verbunden,
Metropolit Arsenios von Austria“