Liturgisch-pädagogische Aspekte der Bibel und die Bedeutung ihres Studiums
Die Bedeutung der Bibel für die orthodoxen Christen. Einführendes
Ohne Zweifel besaß und besitzt die Schrift in allen Jahrhunderten und an allen Orten bis heute einen diachronischen Wert und eine dauerhafte Bedeutung. Bekanntlich sehen alle Christen in der Bibel die Grundlage ihres Glaubens. Selbstverständlich gilt sie, wie schon bekannt, bei manchen westlichen Christen als die ausschließliche Quelle des Christentums schlechthin, bei uns Orthodoxen hingegen als eine der wichtigsten Quellen. Trotzdem nimmt die Bibel im Osten und Westen einen hervorragenden Platz im Glaubensprozess durch die Jahrhunderte hindurch ein. Sie ist Ausgangspunkt und Richtschnur für den einzelnen Gläubigen, für die Glaubensverkündigung der Kirche wie für das Bemühen der Theologie. In den vielgestaltigen Schriften des Alten und Neuen Testaments offenbart sich Gott im Wort, das von Menschen niedergeschrieben worden ist. In der geschriebenen Bibel begegnet das Göttliche dem Menschlichen. Unter den Bedingungen von Raum und Zeit entstanden, bedarf die Heilige Schrift immer neu der Auslegung im Lichte des sich wandelnden Welt- und Menschenverständnisses, damit sie die jeweils nachwachsende Generation erreichen und dauernd der modernen Welt entsprechen kann.
Genau an diesem Punkt knüpft die hohe Bedeutung der Vermittlung der Bibel an die orthodoxen SchülerInnen im Rahmen des orthodoxen Religionsunterrichts an. Die Verantwortung der Vermittler, nämlich der orthodoxen Religionslehrerinnen und –lehrer, gegenüber der empfindlichen Seelen aller SchülerInnen ist enorm. Da man nicht nur ein romanartiges Buch, sondern einen besonderen Schatz des orthodoxen Glaubens den Kindern nahelegen muss, folgt daraus auch der hohe Wert einer Schulbibel, wie die frisch gedruckte, für den gesamten Bildungsprozess. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass alle Facetten des orthodoxen Glaubens und Lebens biblisch geprägt sind. Konkrete Aspekte dieses Einflusses werden wir im Rahmen dieser Ausführungen behandeln. An dieser Stelle wollte ich bloß daran erinnern, dass auch in der Struktur des akademischen Theologiestudiums die Bibel eine gewisse Priorität hat; bei der Aufzählung der international anerkannten theologischen Disziplinen spricht man zuerst von der „Biblischen Theologie“ und dann von der „Historischen Theologie“, der „Systematischen Theologie“ und der „Praktischen Theologie“.
Aufgrund der Tatsache, dass die Bibel im orthodoxen Verständnis eine gott-menschliche Größe ist, nimmt die Schriftauslegung in der gesamten Orthodoxen Kirche einen zentralen Platz ein, da unter anderem das Bemühen um das Verständnis des Alten und Neuen Testaments ein ernstzunehmendes Anliegen der Alten Kirche bereits seit der urchristlichen Zeit gewesen ist. In diesem Zusammenhang sollten wir uns eine deutliche Unterscheidung, die sich in der orthodoxen Tradition auf die Rollenverteilung der offiziellen Kirche und der einfachen Gläubigen bezieht, vor Augen führen. Nicht jeder Gläubiger auf willkürliche Weise, sondern nur die Kirche, die vom Heiligen Geist geleitet wird, besitzt die volle Autorität, die ihr geoffenbarte göttliche Wahrheit zu interpretieren und sie der Erlösung der Gläubigen dienstbar zu machen. „Extra Ecclesiam nulla veritas“ (= außerhalb der Kirche gibt es keine Wahrheit), lautet ein ekklesiologischer Grundsatz. Die Erlösung und die ihr dienende Wahrheit sind also wesentliche Eigenschaften der Kirche Christi, die nach dem neutestamentlichen Zeugnis als "Θεοῦ οἰκοδομή" und "γεώργιον" (= "Gottes Bau und Acker", 1 Kor 3,9), "κατοικητήριον Θεοῦ" (= "Wohnung Gottes", Eph 2,22), "οἶκος Θεοῦ, στῦλος καὶ ἑδραίωμα τῆς ἀληθείας" (= "Haus Gottes, Säule und Fundament der Wahrheit", 1 Tim 3,15) bezeichnet wird.
Den kompletten Vortrag von Prof. Nikolakopoulos können Sie HIER herunterladen.